Helene Deptolla verstorben
Ich war traurig, als ich erfuhr, dass Helene Deptolla nur wenige Tage
nach ihrem 80.Geburtstag verstorben war. Sie war eine markante Ostpreußin, in deren Leben sich das Schicksal ihrer
geschundenen Heimat mannigfaltig spiegelte: Als sie am 20. Januar 1931 in dem Dorf Groß Schöndamerau
als zweites von vier Kindern unter dem Namen Helene Borowski in eine
ostpreußische Bauernfamilie geboren wurde, ahnte niemand, welch dramatisches Leben ihr bevorstehen wird.
Es begann ruhig: Die ersten 14 Jahre ihres Lebens kannten keine besonderen Schicksalsschläge: Sie
besuchte die Dorfschule mit gutem Erfolg, lernte auf dem Hof, den Eltern zur Hand zu gehen, besuchte
den Konfirmandenuntericht und - vor allem - lernte, ihre ostpreußische Heimat zu lieben. Die Katastrophe
brach im Januar 1945 in ihr Leben ein: Durch die Misshandlungen russischer Soldaten kam ihre Mutter ums
Leben. Ihr Vater wurde noch längere Zeit im Osten festgehalten. Helene war von einem Tag auf den
anderen für ihre jüngeren Geschwister verantwortlich. Die Vierzehnjährige wurde von den russischen
Besatzern gezwunngen, gefallene deutsche Soldaten beizusetzen - ein traumatisches Erlebnis, das sie
bis an ihr Lebensende nicht vergessen sollte. Bei Arbeiten auf dem Feld wurde sie eines Tages von
Russsen verschleppt und in die Feste Boyen verbracht, wo das vierzehnjährige Kind einige Wochen
unter erbärmlichsten Bedingungen vegetieren musste. Die Lage in ihrem Heimatort spitzte sich zu: Die
neue Administration schickte sich an, sie und ihre Geschwister an polnische Familien, die weit
auseinnander wohnten, zur Adoption freizugeben. Nur dem energischen Eingreifen einer deutschen
Dorfbewohnerin ist es zu verdanken, dass die Geschwister gemeinsam in Groß Schöndamerau bleiben
durften. Die Zeiten wurden ein wenig besser, als Helenes Vater einige Monate später aus dem Osten in
sein Heimatdorf zurückkehrte. Helene hatte Glück im Unglück: Sie erlernte die polnische Sprache und
hatte die Möglichkeit, im Ortelsburger Hospital den Beruf einer Krankenschwester zu erlernen, ein
Beruf, den sie bis zu ihrer Pensionierung mit großem Engagement ausführen sollte. Immer wieder
betonte sie, dass ihr, der Deutschen, die Ausbildung im Ortelsburger Krankenhaus durch den
damaligen polnisch-jüdischen Chefarzt erleichtert wurde, der sich wiederholt dafür einsetzte,
dass sie als "Niemka" nicht diskriminiert wurde. Dennoch: Sie fühllte sich als Fremdling im eigenen Haus.
Trost brachte ihr die innige Beziehung zu Paul, ihrem späteren Mann. 1957 erhielt sie ein Reisevisum, um
ihren Bruder nach einem Unfall in Wien zu besuchen. Sie nutzte diese Gelegenheit und mischte sich in
Wien unter einen Zug jüdischer Auswanderer, die nach Israel wollten, verließ aber den Zug auf
einer Zwischenstation auf deutschem Gebiet. Das westfälische Gladbeck im nördlichen Ruhrgebiet
sollte fortan für Helene und Paul zum Lebensmittelpunkt werden. Schnell wurden Helenes Qualitäten
als Krankenschwester entdeckt, bald übernahm sie die Rolle der leitenden OP-Schwester. Ostpreußen
blieb jedoch weiterhin der Mittelpunkt ihrer Orientierung und ihres Engagements. Über viele Jahre
leistete sie im Kreistag und im Kreisausschuss durch ihre Sach- und Sprachkompetenz wichtige und
gute Arbeit. Ihr Heimatort Groß Schöndamerau gehörte zu den ersten, der Wiedersehenstreffen
durchführte: Dank Helenes Organisationstalent trafen sich jährlich über hundert ehemalige
Dorfbewohner in Gladbeck. Besonders intensiv waren ihre Kontakte nach Polen, zumal dort noch einige
ihrer Verwandten, u. a. ihre Schwester mit ihrer Familie lebten. Sie hatte in Ortelsburg/Szczytno
Kontakte nach allen Seiten, auch zu zahlreichen Polen. Unterschiede zwischen Nationalitäten machte
sie keine. Respektiert wurde sie von allen. Mit ihrer Meinung hielt Helene nicht hinter dem Berg.
Offen vertrat sie ihre Meinung, setzte sich selbstbewusst für die Rechte der deutschen Minderheit
ein: häufig offensiv, gelegentlich auch konfrontativ. Sie gehörte mit ihrem Mann zu den Ersten,
die ihren Hauptwohnsitz in Westdeutschland hatten, im heutigen Szczytno eine Zweitwohnung ihr eigen
nennen durften. Vielfältig das Engagement: Kindergruppen aus Ortelsburg betreute sie während der Ferien
in Gladbeck. Während des Kriegsrechts Anfang der achtziger Jahre organisierte sie den Transport
zahlreicher Hilfslieferungen nach Ostpreußen. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs verteilte sie mit Paul
als Erste finanzielle Zuwendungen, die sogenannte "Bruderhilfe", an bedürftige Menschen in ihrer Heiimat.
Jahre später begleitete sie mich mehrfach als Dolmetscherin bei der Auszahlung der Bruderhilfe. Sie kannte
die entlegensten Walddörfer und einsamsten Hofstellen. Die Abkürzungen querfeldein zwischen Luckau,
Hügelwalde, Fürstenwalde, Liebenberg und Dutzenden von anderen Dörfern waren ihr geläufig. Wo sie auch
anklopfte, wurde sie mit Freude empfangen. Sie nahm sich Zeit für ihre Besuche. Erstaunlich ihr Gedächtnis:
Sie kannte die Lebenssituation vieler Familien: Sie wusste, ob die Kinder in Köln, Warschau oder London
arbeiteten. Sie hatte im Gedächtnis, welches Medikament die rheumakranke Frau in Pupppen benötigte.
Helene - der "Engel der deutschen Minderheit" im Kreis Ortelsburg? Doch. Diese
Bezeichnung gebührt ihr. So wurde sie in ihrer Heimat gesehen. Vor etwa zwei Jahren erkrankte Helene, musste von
da an ständig betreut werden. Bei der Weihnachtsfeier der Kreisgemeinschaft Ortelsburg in Herne im
Dezember 2009 trat sie zum letzten Mal vor die Öffentlichhkeit. Mit ungewohnt leiser Stimme,
aber bewegten und bewegenden Worten machte sie noch einmal deutlich, was ihr ihre ostpreußische Heimat,
ihre Arbeit für Ostpreußen und für die Ostpreußen bedeutet hat. Danach wurde es stiller um sie.
Am 4. Februar folgte Helene Deptollla ihrem geliebten Paul in die Ewigkeit.
Die Kreisgemeinschaft Ortelsburg verneigt sich vor einer verdienten Persönlichkeit.
>Dieter Chilla<
>> Quelle: Das Ostpreußenblatt vom 26. Februar 2011 <<